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Der objektive Masstab dafür ist für Pufendorf die Würde des Menschen. Die verantwortliche Abstimmung des Zusammenlebens gelingt nur, wenn jeder sich gegenüber den anderen so beträgt, daß diese bereit sind, auch seinen Vorteil zu wahren und zu fördern. Pufendorf definiert daher die Aufgaben des Naturrechts: „Die Regeln dieses Gemeinschaftslebens, oder die Lehren darüber, wie sich ein jeder betragen muss, um ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein, werden als Naturrecht bezeichnet.“[4]
Hieraus ergibt sich für Pufendorf folgendes Grundgesetz des Naturrechts: Jeder Mensch soll „die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern … und Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in Gemeinschaft notwendig und nützlich ist; was stört und schadet, ist verboten.“[5] Alle anderen Regeln des Zusammenlebens fliessen aus diesem anthropologischen Sachverhalt.
Weil alle Menschen gleichermassen diese Sozialnatur haben, will und kann niemand „sich mit solchen zu einer Gemeinschaft zusammenschliessen, die ihn nicht wenigstens als Mensch und Träger der gleichen Natur gelten lassen.“ Aus diesem natürlichen Grundgesetz des Gemeinschaftslebens ergeben sich drei natürliche Grundpflichten, ohne deren Beachtung kein friedliches Zusammenleben möglich ist:
Oberste und umfassendste aller Gemeinschaftspflichten ist das Gebot: „Keiner schädige den anderen.“[6] Hieraus fliessen später das Menschenrecht auf Leben, Freiheit, Unversehrtheit, Eigentum und Ehrenschutz.
Die zweite Gemeinschaftspflicht ist: „Jeder beachte den anderen und behandele ihn als einen von Natur Gleichgearteten, nämlich als Mensch schlechthin.“ „Denn die Verpflichtung, das Gemeinschaftsleben aufrechtzuerhalten, bindet alle Menschen in gleicher Weise.“[7]
Und die dritte Gemeinschaftspflicht lautet, der Mensch solle nicht nur Schaden unterlassen. Das alleine würde nicht genügen. Jeder solle vielmehr aktiv „soviel wie möglich den anderen nützen.“[8]
Neben Geselligkeit und Vernunft hat der Mensch die Sprache. Die Menschen regeln natürlicherweise ihr Leben, indem sie durch Sprache gegenseitig Verträge abschliessen. Aus freien Stücken und mit Vernunft abgewogene Verträge oder Versprechen sind daher das natürliche Mittel, das soziale Leben durch einklagbare Rechte und Pflichten näher zu regeln.
Die Menschen müssen daher zum Erhalt des freien, gerechten Gemeinschaftslebens beim Gebrauch der Sprache Treu und Glauben einhalten. „Niemand darf den anderen durch den Gebrauch der Sprache oder anderer Zeichen, die dazu dienen, Gedanken auszudrücken, täuschen.“[9]
Die soziale Menschennatur ist für Pufendorf eine anthropologisch gegebene Einheit von Sein und Sollen. Menschliches Leben ist für ihn grundsätzlich aufgabenhaft. Er nimmt in den anthropologischen Grundzügen seines Naturrechts das vorweg, was wir 250-300 Jahre später in der modernen personalen Tiefenpsychologie bei Alfred Adler wiederfinden.
Für Pufendorf ist die „Erweisung wahrer Menschlichkeit gegen alle und jeden … der tiefste Sinn der sozialitas. In der Liebe zum Mitmenschen, eben weil er Mitmensch ist, liegt das echte Menschentum, die «Natur» des Menschen.“[10] Pufendorf sieht die Würde des Menschen nicht mehr nur allein in der Gottesebenbildlichkeit begründet, sondern Freiheit und Würde des Menschen als individuelle freie und würdige Person sind vor allem anthropologisch begründet. Mit seiner Vernunft kann der Mensch die in seiner Sozialnatur liegenden Pflichten und Normen seines Handelns dann erkennen und dadurch sein Handeln selbst mitmenschlich bestimmen. ...